Leere Straßen in Sarajevo, volle Flüchtlingscamps an den Grenzen

Die fairplay Initiative am VIDC arbeitet seit über einem Jahrzehnt am West-Balkan, insbesondere in Bosnien und Herzegowina. Das Land ist noch immer von den Folgen des Krieges in den 90er Jahren betroffen und kämpft mit einem komplexen politischen System und wieder zunehmenden nationalistischen Tendenzen zwischen den ethnischen Gruppen. Gegenwärtig sind in Bosnien und Herzegowina, einem Land, in dem viele Personen während des Krieges nach Europa geflohen sind, Tausende von Flüchtlingen aus anderen Ländern. fairplay-Mitarbeiter David Hudelist hat zuletzt ein Interview mit Benjamin Dragolj, dem lokalen Koordinator des Football Zajedno Projekts geführt, und ein Gespräch mit Petar Rosandić von der SOS Balkanroute festgehalten.

 

David Hudelist: Benjamin, kannst Du uns über die aktuelle Situation in Bezug auf COVID-19 in Deiner Heimatstadt Sarajevo und anderen Teilen von Bosnien und Herzegowina erzählen?

Benjamin Dragolj: Bisher ist die Situation im ganzen Land halbwegs okay. Ich denke, dass rechtzeitig restriktive Maßnahmen eingeführt wurden und wir bisher etwa 1.200 infizierte Menschen haben. Das Virus hat den gewohnten Lebensverlauf wie überall auf der Welt verändert, viele Menschen haben ihren Arbeitsplatz verloren. Die Touristensaison ist zusammengebrochen, der wirtschaftliche Faktor wird daher am schwierigsten zu bewältigen sein. Schulen, Cafés, Restaurants, Hotels und viele andere Einrichtungen sind geschlossen und von 20:00 bis 05:00 Uhr ist es absolut verboten, das Haus zu verlassen. Langsam wird sich die Situation aber wieder verändern.

Wie wirkt sich COVID-19 auf die komplexe Situation in Bosnien und Herzegowina, wie zum Beispiel auf die Situation in der Republika Srpska aus?

Der Virus deutet auf ein bekanntes komplexes Funktionssystem unseres Landes hin. In der Föderation und der Republika Srpska werden verschiedene Gesetze und Beschränkungen erlassen. Zuerst schien es, als könnten beide Teile gut miteinander arbeiten, dann gab es Zeiten, in denen einige Politiker meinten, dass in der jeweils anderen Entität mehr Menschen infiziert wären und dass Bewegungen zwischen den Entitäten verboten werden sollen. Nach wenigen Treffen einigten sich die Parteien auf eine Zusammenarbeit und bauten etwa gemeinsam Zelte an den Grenzen für Menschen auf, die in das Land einreisen. Aber grundsätzlich hat jede Entität seine eigene Regierung, viele Ministerien und Opposition, daher ist es am besten, sich zu isolieren und auch einmal eine Pause von den Nachrichten einzulegen.

Was passiert gerade in der Sportszene und wie beeinflusst die Situation das Projekt Football Zajedno?

Die Premier League in Bosnien wurde gestoppt. Zusammen mit den Vereinen sucht der Fußballverband Möglichkeiten, um die Saison fortzusetzen. Alle Jugendwettbewerbe und Trainings wurden ebenfalls gestoppt. Leider hat COVID-19 auch unsere Projektaktivitäten beeinflusst. Wir haben ein großes internationales Turnier abgesagt, das im Juni stattfinden sollte, und wir werden wahrscheinlich auch das fairplay-Camp für Jugendliche und Coaches, ein Highlight des Jahres, absagen müssen.

Vor kurzem hast Du einen Live-Chat von UNHCR mit Asmir Begovic vom AC Mailand zu Flüchtlingen verfolgt. Ist sich die sogenannte Fußballfamilie der Situation der Flüchtlinge in Bosnien und Herzegowina bewusst?

Flüchtlinge gelten als eine der größten Herausforderungen in Bosnien und Herzegowina. Fast alle von ihnen wollen in die Europäische Union, aber sie stecken hier fest. Unser Land bietet ihnen keine guten Lebensbedingungen und die Frage ist, ob sie bleiben wollen. Es gibt viele problematische Umstände, so dass selbst die Bürger vor Ort mit der Situation nicht zufrieden sind und die Ablehnung, Flüchtlinge im Land zu haben, zunimmt. Es gab nur wenige schöne Beispiele, bei denen die Zivilgesellschaft und Aktivisten helfen und großartige Arbeit leisten. Bei manchen lokalen Fußballteams wurde Migrantinnen und Migranten angeboten, mit ihnen zu trainieren. Aber es gibt sicherlich noch viel mehr Platz für Hilfe.

 

Im Rahmen von Football Zajedno ist Benjamin Dragolj auch in Kontakt mit Petar Rosandić gekommen. In Österreich ist er vielleicht bekannter als Rapper Kid Pex. Der Wiener hat die SOS Balkanroute mitinitiiert und einen sehr guten Überblick über die Situation in den Flüchtlingslagern in Bosnien und Herzegowina.

In einem Gespräch mit David Hudelist berichtet Petar Rosandić von nach wie vor katastrophalen Zuständen, vor allem in den informellen, spontan entstandenen Flüchtlingscamps. Gegenüber bonvalot.net spricht Rosandić zum wiederholten Mal von der „Schande Europas“. An der der bosnisch-kroatischen Grenze werde die „Drecksarbeit der Festung Europa“ erledigt. Tausende Personen sitzen in Bosnien fest, werden bei Versuchen des Grenzübertritts zu Kroatien von der Grenzwache und von Polizisten teils gewaltvoll zurückgetrieben. In den wilden Camps mangelt es an vielem, vor allem aber an Trinkwasser, Strom, Heizung und Lebensmitteln. 

In den offiziellen Camps sei die Lage nicht viel besser. Die Politik in Bosnien und Herzegowina ist mit der Situation überfordert, nationalistische und rassistische Tendenzen wachsen zunehmend. In Corona-Zeiten werden die Flüchtlinge noch leichter als Schuldige identifiziert, so Rosandić. Geschäfte wurden mit „Migrants not allowed“ beschmiert. Die offizielle Seite Bosniens stimme in dieselbe Kerbe. So meinte der bosnische Sicherheitsminister Fahrudin Radončić unlängst, Migranten seien ein Ballast, den man loswerden müsse. 

Aber es gibt auch viele Einzelpersonen, Initiativen und NGOs, die versuchen, zu helfen und Flüchtlinge vor Ort unterstützen. Mit ihnen hat die SOS Balkanroute bereits ein kleines aber stabiles Netzwerk aufgebaut, das auch in Zeiten von Corona hält. Während des Corona-Lockdowns gab es in Österreich zunächst sogar einen Anstieg an Spenden,  mittlerweile sind diese jedoch eingebrochen, das Thema geht im Moment einfach unter, so Rosandić. Trotzdem ist man stolz, wieder eine kleine Summe zusammengebracht und an lokale Organisationen überwiesen zu haben. Auch Kooperationen mit Supermärkten und Bäckereien vor Ort wurden auf die Beine gestellt, hunderte Menschen in den Flüchtlingscamps können so zumindest grundversorgt werden.

Wie es genau weitergeht, weiß im Moment niemand. Die Initiative SOS Balkanroute wird aber nicht reichen. „Wir sind nur Feuerlöscher, auf Dauer braucht es größere Fische und Multiplikator_innen, um vor Ort zu helfen“, meint Rosandić. Der nächste Hilfskonvoi ist aber bereits in Planung und fährt los, sobald die Grenzen offen sind.

Spenden an die SOS Balkanroute sind nach wie vor dringend gebraucht und herzlich willkommen. Für genauere Informationen kann man auch direkt per Mail Kontakt aufnehmen.

 

 

SOS Balkanroute ist eine humanitäre Initiative für ein menschenwürdiges Leben von geflüchteten Menschen in Südosteuropa.

Spenden:

IBAN: AT42 1500 0002 9105 8428

BIC: OBKLAT2L

Verwendungszweck: SOS Balkanroute

Konto: Flüchtlingshilfe Kremsmünster

 

Informationen über Hilfsmöglichkeiten für Flüchtlinge in Bosnien:

https://www.facebook.com/SOSBalkanroute/ | sosbalkanroute [AT] gmail [DOT] com

 

Aktuelle Informationen zu den internationalen COVID-19-Statistiken, so auch zu Bosnien, finden sich auf der Seite der Europäischen Gesundheitsbehörde ECDC:  

https://www.ecdc.europa.eu/en/geographical-distribution-2019-ncov-cases

Das gemeinsame Projekt Football Zajedno wird von der fairplay Initiative am VIDC in Zusammenarbeit mit BAAP und den Fußballverbänden von Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Serbien koordiniert. Benjamin Dragolj ist vor Ort aktiv und koordiniert und implementiert Trainings, Workshops und Fußballturniere mit Vereinen, Schulen und NGOs.

https://footballzajedno.org/ | https://www.facebook.com/Balkanprojects/

 

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