"Judo hat mir Unabhängigkeit gegeben"

Interview mit der brasilianischen Sportlerin und Para-Judoka Lucia Da Silva Araujo von Hanna Stepanik.


Im vergangenen Sommer war die Para-Judo-Welt in Aufregung wegen der Paralympischen Spiele 2024 in Paris. Einige Monate sind vergangen und der IBSA Judo World Cup in Tiflis wird in der georgischen Hauptstadt stattfinden, im Anschluss an den Tiflis Grand Slam 2025. Dies gibt uns die Gelegenheit, auf die Karriere einer Para-Judo-Athletin zurückzublicken, für die Judo eine entscheidende Rolle gespielt hat.

Lucia Da Silva Araujo ist eine brasilianische Sportlerin. Sie nahm an den Olympischen Spielen 2008 in Peking teil und gewann in London und Rio Silber, in Tokio Bronze. Sie hat nicht nur persönliche und gesellschaftliche Herausforderungen gemeistert, sondern ist auch zu einer inspirierenden Persönlichkeit in der Welt des Sports geworden. Bei ihrer Geburt wurde bei Lucia eine Sehbehinderung diagnostiziert. Ihr Weg zum Erfolg war geprägt von ihrer Entschlossenheit, Barrieren zu durchbrechen, ihre Grenzen neu zu definieren und ihre Plattform zu nutzen, um sich für Gleichberechtigung und Inklusion einzusetzen. Lucia Da Silva Araujo wurde von Hanna Stepanik von der fairplay Initiative in Wien interviewt.

„Ich habe mit 15 Jahren angefangen, Judo zu trainieren. Ich habe eine Sehbehinderung aufgrund einer angeborenen Toxoplasmose. Als ich aufwuchs, wurde ich nicht als Mensch mit einer Behinderung behandelt. Ich hatte immer Sehprobleme, war mir meiner Behinderung aber nicht bewusst. Erst mit 15 Jahren begann ich, selbstständig zu gehen. Meine Geschwister waren im Judo aktiv, also beschloss ich, mich ihnen anzuschließen. Während sie irgendwann aufhörten, machte ich weiter. Judo gab mir Unabhängigkeit und ich fuhr mit dem Bus zum Training, was für mich damals ein wichtiger Schritt war.

Anfangs sah ich mich nicht als Sportlerin mit einer Behinderung. Meine erste Begegnung mit dieser Identität hatte ich viel später, im Alter von 27 Jahren. Davor wollte ich Anwältin werden und träumte davon, Jura zu studieren. Mein Stiefvater riet mir davon ab, weil er dachte, dass man für Jura viel lesen müsse, aber heute weiß ich, dass viele Menschen mit Sehbehinderungen erfolgreich Jura studieren. Nach der Highschool besuchte ich Vorbereitungskurse für die Universität, aber 2004 zog ich nach Europa, um bei meiner Mutter zu leben. Dort begann sich mein Weg zu verändern.

Dort lernte ich einen Massagetherapeuten kennen, was mich dazu brachte, in Brasilien Massagetherapie zu studieren. Ich begann, mich anders zu sehen, als ich Renata traf, ein Mitglied der brasilianischen paralympischen Goalball-Nationalmannschaft. Sie zeigte mir, dass ich Dinge erreichen konnte, die ich nicht für möglich gehalten hatte. Ihre Anleitung war transformativ und sie ermutigte mich, zum Judo zurückzukehren. Obwohl ich anfangs zögerte, folgte ich ihrem Rat, bestand alle Prüfungen und wurde kurz darauf für die Nationalmannschaft ausgewählt. Es war ein bedeutender Wendepunkt in meinem Leben.

Während meiner Karriere gab es viele wichtige Momente, aber der bedeutendste war die Aufnahme in das Paralympische Team. Davor hatte ich mich nicht wirklich als Profisportlerin gesehen. Meine Familie war sehr beschützend und ich war ziemlich abhängig von ihnen geworden. Als ich ins Team kam, begann sich alles zu ändern. Ich wurde schwanger, bekam eine Tochter, heiratete und zog aus dem Haus meiner Familie aus. Ich begann, mehr Verantwortung für mein eigenes Leben zu übernehmen. Die Teilnahme an den Paralympischen Spielen 2008 in Peking war ebenfalls ein wichtiger Meilenstein. Aber der eigentliche Wendepunkt kam, als ich meine Tochter bekam. Ich hatte Angst, mich allein um sie zu kümmern, aber ich habe mich dazu durchgerungen, es zu lernen. Da wurde mir klar, dass ich meine Verantwortung als Mutter und als Athletin unter einen Hut bringen konnte.

Ich versuche, das Leben aus einer breiten Perspektive zu betrachten. Es gibt immer Herausforderungen und Nöte auf der Welt, aber ich verstehe, dass dies Teil der menschlichen Erfahrung ist. Ich habe mich über meine Kirche an Gemeindeprojekten beteiligt, insbesondere mit Menschen in Afghanistan, und es sind diese Art von Initiativen, die mich daran erinnern, weiterzumachen.

Dann durchlebte meine Tochter die Pubertät und eine schwere Depression, und ich musste mich zwischen meiner Karriere als Sportlerin und meiner Rolle als Mutter entscheiden. Natürlich stand meine Rolle als Mutter an erster Stelle. Diese Phase wurde durch meine ADHS-Diagnose und die Anpassung meiner Medikamente, die sich auf meine Leistung auswirkten, noch erschwert. Trotz allem konnte ich in den letzten Monaten vor den Paralympics 2020 in Tokio meine körperliche Verfassung wiedererlangen und mich so gut wie nie zuvor vorbereiten. Obwohl ich keine Medaille gewann, fühlte ich mich stärker als je zuvor.

Als prominente Sportlerin ist es meiner Meinung nach wichtig, meine Plattform zu nutzen, um auf soziale Probleme aufmerksam zu machen. Ich bin jedoch auch der Meinung, dass man dabei verantwortungsbewusst und aufmerksam vorgehen sollte. Selbst einfache Handlungen, wie das, was wir in den sozialen Medien teilen, können einen großen Einfluss auf andere haben. Als ich zum Beispiel Bilder meiner Trainingsausrüstung teilte, wurde mir klar, dass sich nicht jeder eine solche Ausrüstung leisten kann, und es ist wichtig, sensibel damit umzugehen. Ich versuche, vorsichtig zu sein, um keine Kontroversen zu verursachen. Im Moment nutze ich soziale Medien lieber für berufliche Zwecke, aber ich weiß, dass es wichtig ist, unsere Plattformen für gute Zwecke zu nutzen. Bewusstsein und Verantwortung sind der Schlüssel.

Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich mich auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen und den Bildungsstand konzentrieren. Das öffentliche Bildungssystem, insbesondere in Brasilien, weist eine große Lücke in Bezug auf Ressourcen und Qualität auf. Oft gehen Politiker*innen nicht angemessen auf die Probleme ein, mit denen Menschen mit Behinderungen konfrontiert sind, und die Bildung erhält nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient. Ich habe das Bedürfnis, über die Ungleichheiten in beiden Bereichen zu sprechen. Ich bin auch besorgt darüber, wie Menschen mit Behinderungen ausgegrenzt werden. Zum Beispiel wissen viele immer noch nicht, dass es barrierefreie Ressourcen für Menschen mit Behinderungen gibt. Darüber sollte mehr gesprochen werden, aber leider werden die Probleme oft übersehen.

Nach meiner Karriere im Sport wurde mir klar, welche Lücke das hinterließ. Für Sportler*innen kann die Phase nach der Karriere schwierig sein. Dies war jedoch der Moment, in dem ich die Gelegenheit sah, mein Studium wieder aufzunehmen, das ich immer auf Eis gelegt hatte. Die Pandemie gab mir die Zeit, ein Jurastudium zu beginnen, und es hat sich gelohnt. Bildung eröffnet so viele Möglichkeiten, und ich möchte das, was ich in meiner Sportkarriere gelernt habe, nutzen, um anderen zu helfen. Wenn ich Kindern die Bedeutung von Bildung und Sport nahebringe, könnte ihnen das genauso helfen, wie mir Judo geholfen hat.

Ich glaube, dass es bei einem guten Leben um mehr geht als nur um materiellen Komfort, es geht um Bildung, politisches Bewusstsein und soziale Verantwortung. Wir brauchen eine bessere Bildung für Kinder und Erwachsene. Es ist wichtig, nicht nur unsere eigenen Bedürfnisse zu verstehen, sondern auch die Bedürfnisse anderer. Wir müssen eine Gesellschaft aufbauen, in der sich die Menschen um das Wohlergehen der anderen kümmern, nicht nur um ihr eigenes. In Brasilien verkaufen Menschen oft ihre Stimmen für Grundnahrungsmittelkörbe, und das ist ein Problem, das in unserer Gesellschaft immer noch weit verbreitet ist. Ein gutes Leben erfordert Bildung, die die Menschen dazu befähigt, fundierte Entscheidungen zu treffen und zum Gemeinwohl beizutragen.“

Lucia denkt an ihre Erfahrungen als Spitzensportlerin zurück und an alles, was sie auf und abseits der Tatami gelernt hat, und wie sie die Spiele in Paris im vergangenen Sommer angegangen ist. Sie hatte ihre eigene Sicht auf die Veranstaltung: „Ich kam mit einigen Sorgen in Paris an, weil ich viel Negatives über die Einrichtungen gehört hatte. Ich war jedoch angenehm überrascht. Die Unterkunft im Olympischen Dorf war barrierefrei und ich habe bequem geschlafen. Es gab jedoch einige Herausforderungen beim Transport, vor allem wegen der vielen Fahrräder und Roller auf den Straßen. Der problematischste Aspekt war ein kurzer Weg mit Treppen, der sich wie ein Kinderspielplatz anfühlte. Er war nicht barrierefrei und ziemlich gefährlich.

Zwischen Ländern wie Frankreich und Brasilien gibt es deutliche Unterschiede in den Systemen zur Unterstützung von Athleten. Die Strukturen sind besser und in Frankreich liegt der Schwerpunkt mehr auf Barrierefreiheit und Inklusion, aber ich sehe in Brasilien ein großes Potenzial. Wir sind noch dabei, diese Systeme zu entwickeln, aber ich glaube, dass sich Brasilien mit der Zeit verbessern und mehr Möglichkeiten für Menschen mit Behinderungen bieten wird.

Ich stelle mir vor, in Zukunft anderen zu helfen. Es gibt nichts Schöneres, als anderen zu helfen. Ich gebe leidenschaftlich gern etwas zurück und möchte weiterhin Menschen helfen, insbesondere Menschen mit Behinderungen. Wenn ich das Leben eines Menschen verbessern kann, dann werde ich das tun.“

Lucia Da Silva Araujo hat Erfahrung, sie hat Wissen, aber sie hat auch einen sehr menschlichen Ansatz, der Wunder bewirken könnte, um die Voraussetzungen für eine bessere Gesellschaft zu schaffen, in der Behinderung keine Schwäche, sondern eine Stärke ist.

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